Die ethische Problematik ist sicher einer der Gründe, warum der Vampirmythos
über alle Zeiten so interessant war und heute so zu faszinieren vermag.
Meine Definition lässt die
Natur des Vampirs völlig offen. Wenn man sich auf die christlich geprägte
Vorstellung des Vampirismus einlässt, impliziert man die Existenz des
Teufels und damit auch Gottes. Damit stellt sich die ethische Frage ganz anders
als für einen nichtgläubigen Menschen. Während im ersten Fall ein
Vampir die Seelen seiner Opfer oder zumindest der von ihm Umgewandelten der Verdammnis
nahebringt oder sogar anheimfallen lässt – falls es nicht zur
Erlösung kommt –, ist dies für einen Agnostiker oder Atheisten kein
Problem. Für ihn ist der Vampir nur ein Mörder, und als solcher ist
er bei weitem nicht so erschreckend oder »erfolgreich« wie viele andere,
erinnert sei nur an Diktatoren wie Hitler, Pol Pot oder Ceaucescu – oder dessen
großes Vorbild Vlad Țepeș.
Ein Vampir, der jede Nacht einen Menschen tötet, kommt in hundert Jahren
auf nicht einmal 40.000 Opfer – und soviele Kinder verhungern jeden Tag. Das hilft
den Opfern nicht, ändert nichts an deren Ermordung, aber es relativiert den
Schrecken.
Denn der Schrecken des Vampirs ist ein metaphysischer, ein spiritueller. Als
rein materielles Monster ist der Vampir eher harmlos, weder besonders gefährlich
noch grauenvoll oder unappetitlich und leicht zu bekämpfen.
Man kann sich sogar fragen, ob ein Vampir denn eigentlich »böse«
ist – auch wenn er gerne als Inkarnation des Bösen angesehen wird.
Dabei sei einmal vollkommen abgesehen von der Diskussion, ob es so etwas wie »das
Böse« überhaupt gibt oder wie es zu verstehen sei; die Frage stellt
sich selbst bei einer ganz naiven Auffassung von »gut« und »böse«.
Was tut ein solcher Vampir anderes als ein Raubtier? Er saugt seine Beute aus,
und er vermehrt sich. Ist das »böse«? Und ist seine Bekämpfung
dann etwas anderes als das Erschießen eines Wolfes?
Im Theaterstück
»Carmilla« notiert das Opfer Laura in ihrem Tagebuch 30 Jahre
nach der Vernichtung der Vampirin:
»Ich liebe sie immer noch – auch wenn ich inzwischen weiß,
dass sie ein Monster war. Aber werden nicht auch Folterknechte von ihren
Frauen geliebt, KZ-Aufseher und KGB-Funktionäre? Viele Menschen lieben Monster...
– Doch war Carmilla eigentlich ein Monster? War sie nicht in Wirklichkeit
eine tragische Gestalt, ein Opfer? War sie nicht viel eher ein Raubtier als eine
Mörderin? – Sie sehnte sich nach Liebe. Und sie wußte: Sie würde
das, was sie liebte, zerstören, indem sie es sich gleich machte. Man kann
einen Vampir verstehen, ihn bemitleiden, ihm sogar verzeihen – auch wenn
man den Vampirismus für böse und verdammenswert hält. Sind wir
denn nicht alle Vampire? Besteht nicht jede menschliche Beziehung in einem Geben
und Nehmen, das, wenn es aus dem Gleichgewicht gerät, leicht zu einem Aussaugen
des Anderen wird.«
Literatur: Friedhelm
Schneidewind: Die Vampire sind unter uns –
in: Friedhelm Schneidewind
und Ulrike Schneidewind: Carmilla
– Saarbrücken 1997
Die Folien zum Vortrag »Moral, Macht und Mundraub« oder auch »Das Böse und der Vampir« (PDF, 493 KB)
u. a. Kongress der »Dracula-Society« 2003 + 1. Vampyrcon Duisburg 2004 + 1. Elbenwaldspektakel Burg Bilstein 2006 +
RingCon 2009 Bonn + »Biss aufs Blut« Lüdenscheid 2010 + Jugend-Literatur-Festival »JuLi im März« Braunschweig 2012 (Bilder)