Einer der bekanntesten Vampire wurde an jenem berühmten Sommerabend des Jahres 1816 geboren, an dem auch »Frankenstein« seinen Ursprung hat. Percy Shelley, Lord Byron, sein Leibarzt (und wahrscheinlich Liebhaber) John William Polidori und Mary Goodwin, spätere Mary Shelley, hatten sich am Genfer See in eine Atmosphäre des Unheimlichen versponnen – Mary Shelley beschreibt dies eindrucksvoll in einem Vorwort zu einer späteren Ausgabe ihres »Frankenstein«.
Es war das »Jahr ohne Sommer« aufgrund des Ausbruchs des indonesischen Vulkan Tambora auf Sumbawa, einer Nachbarinsel von Bali; die Jahre darum nannte man auch »Achtzehnhundertunderfroren«. Lord Byron schrieb in diesem Jahr, 1816, das Gedicht Finsternis«:
Die schöne Sonne war verglüht;
die Sterne
Verdunkelt kreisten in dem ew’gen Raum,
Weglos und ohne Strahl; blind zog die Erde
In mondesleerer Luft. Der Morgen kam
Und ging und kam, und brachte keinen Tag.
Um off’ne Feuer … drängten sich die Menschen,
Nur einmal noch ins Antlitz sich zu schauen.
Lord Byron schlug eines Abends vor, jeder solle eine Gespenstergeschichte schreiben. Mary Goodwin schuf aufgrund dieser Anregung ihren »Frankenstein«,
den viele für den ersten Science-Fiction-Roman halten, Byron den Plan für
eine Novelle um einen Vampir. Der Erfolg des Vampirs als literarische Gestalt
ist dann der Erfolg eines geistigen Diebstahls: Polidori, der mit seiner Story
über eine Frau mit Totenschädel nicht weiterkam, fertigte aus Byrons
Konzept eine Geschichte, die ungeahnten Erfolg hatte: »The Vampyre. A
Tale« (»Der Vampyr«) wurde innerhalb kürzester Zeit in
ganz Europa gelesen; schon im Erscheinungsjahr 1819 wurde sie ins Französische
und Deutsche übersetzt. Dies lag weniger an der kaum vorhandenen literarischen
Qualität als daran, dass Polidori im Vorwort der ersten Ausgabe Byron als
Verfasser ausgab, wogegen der sich zwar wehrte, doch nur mit mäßigem
Erfolg; in viele Byron-Ausgaben wurde die Geschichte aufgenommen. Außerdem
war die Zeit für solch sinistre Heldengestalten einfach reif. Ungewöhnlich
für eine Geschichte damals: Das Böse triumphiert, Lord Ruthven, Polidoris
Vampir, macht weiter die Erde unsicher.
Lord Ruthven wurde der »Dracula« des 19. Jahrhunderts – und es
ist schon eine reizvolle Ironie der Literaturgeschichte, dass dieser so erfolgreiche
Vampir die Frucht einer Art geistigen Vampirismus war. In der Folge gab es jede
Menge Theaterstücke – zeitweise liefen in Paris drei gleichzeitig – und
mehrere Opern – und natürlich Vampirgeschichten, Vampirgeschichten, Vampirgeschichten...
(Literatur).
John William Polidori, Arzt (1795 – 1821) und wahrscheinlich Liebhaber von Lord Byron, Autor von »The Vampyre. A Tale«, der ersten bekannten Vampirgeschichte, für die er den Vampir Lord Ruthven erfand. War mit 19 Jahren der jüngste Arzt Englands, veröffentlichte u. a. das Drama »Cajetan« und den Roman »Ernesto Berchtold oder der Moderne Ödipus«. Beging am 24. August 1821 Selbstmord.
Eine hervorragende Darstellung der Ereignisse am Genfer See und des Lebens von Polidori findet sich im Hörspiel »Der Vampyr oder Gespenstersonate am Genfer See« (2004).
LITERATUR:
Kerner, Charlotte (Hrsg.): Die fantastischen 6. Die Lebensgeschichten von Stephen King, Philip K. Dick, Stanislaw Lem, J.R.R.Tolkien, Bram Stoker, Mary Shelley – Weinheim: Beltz & Gelberg, 2010.
darin: Stürzer, Anja: Frankenstein. Mary Shelley erschuf das berühmteste Monster